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Ein beherzter Neuanfang (1945–1990)

Nach dem Ende des II. Weltkrieges kehrten vereinzelt Überlebende der Shoah in das Münsterland und in die Stadt Münster zurück. Das Ehepaar Siegfried und Else Goldenberg stellte Räume ihrer Wohnung als Betraum zur Verfügung und setzte sich auch dafür ein, dass der Friedhof instandgesetzt wurde. Eine Bombe hatte einen Krater gerissen und viele Grabsteine zerstört. Das Dach der Trauerhalle war im Frühjahr 1947 eingestürzt; Baumaterialien waren nur schwer zu bekommen. Am 3. Februar 1948 teilte das Ehepaar Goldenberg im Namen der Jüdischen Gemeinde dem Hochbauamt der Stadt Münster mit:

„Zwischen dem 24.12.47 und 30.1.48 wurde auf dem jüdischen Friedhof in der Leichenhalle ein Einbruch verübt. Die Fensterscheiben der Gedenkhalle wurden zerschmettert. Sämtliches, dort lagerndes Holz, welches noch für Fundamente verwendet werden sollte, wurde entwendet. Es befanden sich dort 2 große eichene Leuchter und sonstiges religiöses Inventar, welches ebenfalls entwendet wurde. Außerdem wurde die kleine Seitentür aufgebrochen und die Halle noch verunreinigt. Auf dem Friedhof selbst wurden einige Tannen abgehauen und einige herausgerissen, ohne Frage wurden die Tannen als Weihnachtsbäume verwendet. Wenn auch alles darauf hinweist, dass der Einbruch und die Schändung unseres Friedhofs dazu diente, sich im Besitz von Brennholz zu setzen, so ist es doch eine unglaubliche Rohheit, diese Gegenstände von einer religiösen Stätte zu entwenden. …“ (Stadtarchiv, Amt 65, Nr. 225)

Das Hochbauamt reagierte am 7. Februar1948 mit einem Schreiben an den Leiter der Polizeidienststelle:

„Die starke Verminderung der jüdischen Gemeindemitglieder Münster’s durch die jüngste Vergangenheit hat zur Folge, dass der jüdische Friedhof an der Roxelerstrasse nicht mehr der notwendigen Pflege und Überwachung unterliegt. Infolgedessen sind vor kurzer Zeit Beschädigungen der Anpflanzungen und des Feierraumes durch unbekannte Täter geschehen. Es wird gebeten diesem Umstand Rechnung zu tragen und durch sorgfältige Überwachung weitere Übeltaten zu verhindern.“ (Stadtarchiv, Amt 65, Nr. 225)

Der Schriftwechsel dokumentiert die Not der Zeit, aber auch die Rücksichtslosigkeit, sich auf dem Begräbnisort der Juden zu bedienen; er dokumentiert die Sprachunfähigkeit der Behörden, die Shoah in angemessene Worte zu fassen, aber immerhin auch die Bereitschaft, den jüdischen Friedhof vor weiteren Übergriffen zu schützen.

Die erste Bestattung fand, soweit dies an den Grabsteinen ablesbar ist, erst wieder 1954 statt. Inzwischen hatte die Gemeinde einen Betraum in der Marks-Haindorf-Stiftung am Kanonengraben einrichten können und dort auch die beiden ersten Bar-Mizwah-Feiern (Uri Frankenthal und Rolf Wilms) erlebt. Am 26. November 1954 war Josefine Böhm verstorben. Ihr Grabstein (L82) ist ein Beispiel der schlichten Gestaltung, die auch die Steine der kommenden Jahre prägt: festgehalten sind nur der Name sowie Geburts- und Sterbetag. An jüdisch-traditionellen Symbolen findet sich lediglich der Davidsstern sowie die Anfangsformel („hier ruht“) und der abschließende Segenswunsch, wie er zu einer hebräischen Inschrift gehört („Ihre/Seine Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens“).

Immer wieder war der Fall gegeben, dass auf die Gemeindeleitung die Betreuung älterer und kranker Gemeindemitglieder, die in Deutschland keine Angehörigen mehr hatten, und auch die Sorge um deren Bestattung zukam: so war zum Beispiel die unverheiratet gebliebene Ella Leffmann (L1) im Januar 1959 im Krankenhaus der Missionsschwestern in Münster-Hiltrup verstorben. Während ihres mehrmonatigen Aufenthaltes dort hatten Frau Goldenberg und andere Mitglieder des israelitischen Frauenvereines sie immer wieder besucht und auch Kontakt zu ihrer Nichte in London aufgenommen.

Aus dem Frühjahr/Sommer 1962 ist ein Briefwechsel zwischen Frau Goldenberg und Heinz Joachim in Beverly Hills erhalten. Darin dankt der Sohn für die Fürsorge um seine Mutter und berichtet, er habe bereits ein Einreisevisum in die USA in Auftrag gegeben, um seine Mutter, sobald sie genesen sei, zu sich zu holen. Im September stirbt Paula Joachim (R28); ihr Sohn kann nur noch zur Beerdigung herbeieilen.

Zwischen 1954 und 1959 haben zehn Bestattungen stattgefunden; auch in den kommenden Jahrzehnten steigt die Zahl nicht sehr viel höher. Die Gemeinde bleibt, wie alle jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik, in dieser Zeit klein. Gleichwohl war aufgrund der religionsgesetzlichen Vorschriften kaum noch Raum für weitere Beerdigungen vorhanden; die Lage der Gräber zeigt, dass man vorerst im linken Areal gleich hinter der Einfassungsmauer – dort ruht zum Beispiel Ella Leffmann, dort ruht aber auch etwa der erste Vorbeter und Lehrer der Gemeinde Salomon Domb (L3) – und dann auch links der Trauerhalle noch einige wenige freie Flächen vorgefunden hat.

Im Oktober 1962 kaufte die Jüdische Gemeinde deshalb noch einmal einen knapp 3 m tiefen Streifen hinzu, der in nördlicher Richtung hinter der Trauerhalle lag und zum Grundbesitz der Oberfinanzdirektion Münster gehörte (Gelände der Blücher-Kaserne). Der Verkäufer verlangte zur Absicherung der Grenze eine Mauer mit oberhalb fest eingebautem Drahthindernis. 1969 wurde die gesamte Umfassungsmauer des Friedhofs ausgebessert.

In den Jahrzehnten zwischen 1950 und 1990 hat sich die Gemeinde von einigen ihrer Gründungsmitglieder nach der Shoah verabschieden müssen. Der Grabstein von Siegfried (L155) und Else Goldenberg (L155) erinnert daran, dass beide ihre Deportation nach Riga und in weitere Zwangslager überlebt haben, aber auch daran, dass ihre kleine Tochter Miriam in Riga ermordet wurde. Siegfried Goldenberg war bis 1975 gewählter Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, immer unterstützt von seiner Ehefrau Else. 1975 erhielten sie von der Stadt Münster in Anerkennung ihrer Verdienste die Paulus-Plakette.

Für das Ehepaar Bernhard (L192) und Eva Brilling (L195) wurde die Tradition der getrennten Grabstätten beibehalten. Das Ehepaar war 1957 nach Münster gekommen, wo Bernhard Brilling eine Anstellung am Institutum Iudaicum fand und seine Forschungen zur Geschichte der Juden in Westfalen und im Münsterland weiterführte. In einem bewegenden Grabspruch hält Eva Brilling fest, dass sie für ihren Mann, wie auch die erste Frau im Paradies, eine „Hilfe ihm gegenüber“ war.

Ein schlichtes Grab im linken Gräberfeld, dicht an der Umfassungsmauer, wo noch freie Felder gefunden wurden, erinnert an den Kantor der Gemeinde Dr. Zwi Sofer (R19; vgl. auch hier).

Eindrucksvoll der Gedenkstein der Familie Rappoport (L17), der die Geschichte dieser Familie über zwei Generationen und drei Kontinente hinweg erzählt und schon in das neue Jahrtausend hineinreicht.

Literatur:

Gisela Möllenhoff / Rita Schlautmann-Overmeyer, Art. „Münster“, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, Bd. 2, Münster 2008, S. 487–513, hier S. 509.

Sharon Fehr (Hrsg.), Erinnerung und Neubeginn. Die jüdische Gemeinde Münster nach 1945. Ein Selbstporträt, Münster 2013, bes. S. 205–211 zu den jüdischen Friedhöfen Münsters (mittelalterlicher Friedhof, Friedhof Einsteinstraße, Begräbnisplatz unterhalb des christlichen Friedhofs Münster-Hiltrup seit 2002).

 

Ungedruckte Quellen:
Stadtarchiv Münster, Amt 65, Nr. 225
Synagogenarchiv Münster, Mappe Fr. Goldenberg
Synagogenarchiv Münster, Mappe Friedhof Roxeler Straße

(zusammengestellt von Marie-Theres Wacker)