Zum Hauptinhalt springen

Deutsche Staats­bürger jüdischen Glaubens (1880–1933)

1886/7 erstand die Synagogengemeinde vom bischöflichen Generalvikariat ein Grundstück nach Westen hin. Die ersten Bestattungen dort fanden ab 1890 statt; man begann diesmal nicht, wie 1812, im südlichen Bereich in der Nähe der Straße, sondern am nördlichen Ende. Eine Einfriedung des nun ca. 1250 m2 großen Friedhofs mit einer Mauer erfolgte zu Beginn der 1890er Jahre.

Einige der ersten Grabsteine nach 1887 sind auch jetzt noch traditionell in Formen und Inhalten, aber daneben zeigt sich auch bereits die neue Offenheit gegenüber der Mehrheitskultur. Ein sprechendes Beispiel ist das Grab der jungen Frau Margarete Marks (L 171), die 1896 mit 22 Jahren verstarb. Ihre Eltern durchbrachen zum ersten Mal auf dem Münsteraner Friedhof das traditionelle Tabu der Darstellung menschlicher Figuren auf Grabsteinen. Zu sehen ist ein hoher Sockel, dessen Beschriftung nur den Namen und die Lebensdaten der Verstorbenen angibt und keinerlei traditionell-jüdische Symbole aufweist. Über dem Sockel erhebt sich die vollplastische Figur einer jungen Frau. Sie stützt sich mit ihrem linken Arm auf eine abgebrochene Säule und hält mit der Rechten einen gewundenen Kranz. Die abgebrochene Säule, Symbol eines zu früh zu Ende gegangenen Lebens, erscheint auf dem Münsteraner jüdischen Friedhof mehrmals als Grabmarkierung, aber die Verbindung mit einer Skulptur ist hier singulär. Familie Marks demonstriert damit ihre Integration in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft, die so weit geht, dass man sogar im Tod und an einem geschützten Ort wie dem Friedhof der eigenen Gemeinde auf Zeichen der Zugehörigkeit zum Judentum verzichtet (oder sie nicht für notwendig hält). Dazu kommt eine weitere Besonderheit: Eine ganz ähnliche Skulptur findet sich auch auf einem Grab auf dem Münsteraner städtischen Zentral­friedhof, im Bereich eines evangelischen Gräberfeldes, etwa aus der gleichen Zeit (Eingang von der Himmelreichallee, erster Gang auf der rechten Seite. Die dort zu sehenden Inschrift ist jüngeren Datums; ursprünglich galt das Grabmal ebenfalls einer jungen Frau). Die Eltern von Margarete Marks haben also ihre Trauer über den Verlust ihrer Tochter in die gleiche Form gebracht wie ihre christlichen Nachbarn, und es ist eine Form, die einer damals aufkommenden Mode entsprach.

Auch in Münster, wie überall im Kaiserreich, waren viele der jüdischen Familien deutsch-national eingestellt und verstanden sich als deutsche Staatsbürger und Staatsbürgerinnen jüdischen (oder: mosaischen, oder: israelitischen) Glaubens. Auch jüdisch-deutsche Familien waren stolz darauf, dass ihre Söhne im Ersten Weltkrieg für das deutsche Vaterland kämpften. Auf einer Ehrentafel in der Synagoge gedachte man der Gefallenen aus der eigenen Gemeinde.

Ein Beispiel ist Ernst Marcus, Sohn des Münsteraner Heimatdichters Eli Marcus und seiner Frau Anna. Einen Tag vor seinem Tod an der Front in Russland noch schrieb er an seine Eltern, er habe soeben das Eiserne Kreuz I. Klasse erhalten. Sein Leichnam wurde nach Münster überführt und hier beigesetzt. Die Grabsteininschrift hält fest, dass Ernst Marcus (L99) Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse war.

Auch seinen Eltern war es offenbar wichtig, dass die Ehrungen nicht vergessen werden, die ihr Sohn für seinen Einsatz an der Front erhalten hatte.

Auch an diesem Stein fällt auf, dass keinerlei hebräische Schriftzeichen oder jüdische Symbole zu finden sind. Dies gilt für nicht wenige andere Steine aus den drei ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde war eine Selbstverständlichkeit, aber sie musste für viele ihrer Mitglieder nicht mehr über traditionelle Formen zum Ausdruck gebracht werden. So findet man jetzt auch zunehmend Doppelgruften mit einem Grabstein, der beiden Ehepartnern oder auch einer Familie gewidmet ist. Die Gestaltung der Grabsteine wird vielfältiger und nimmt zeitgenössische Stilformen auf. Große Urnen werden den Stelen aufgesetzt, Eichenlaub umkränzt das Schriftfeld, die Obeliskenform des Steins wird beliebt.

Auch die Errichtung der Trauerhalle 1928 dokumentiert die moderne Zeit: sie wurde nicht mehr, wie noch die Synagoge von 1880, einem jüdischen Architekten übertragen, sondern dem Münsteraner Peter Strupp, der durch seinen Bauhaus-Stil bekannt war.

Literatur:

Gisela Möllenhoff / Rita Schlautmann-Overmeyer, Art. „Münster“, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, Bd. 2, Münster 2008, S. 487–513, hier S. 509: die Autorinnen bieten einen knappen chronologischen Abriss des Erwerbs und der mehrfachen Erweiterungen des Friedhofsgeländes an der Einsteinstraße und eine generelle Einbettung der Grabsteine in die jüdische Bestattungskultur des 19. und beginnenden 20. Jh.s.

Marie-Theres Wacker, Ein neuer Mordechai und ein quellender Brunnen. Genderspezifische Beobachtungen zum Jüdischen Friedhof an der Einsteinstraße in Münster/Westfalen (1816–2016), in: Angela Berlis u.a. (Hg.), Die Geschlechter des Todes. Theologische Perspektiven auf Tod und Gender, Göttingen 2022, S. 363–395 (+ 6 Abb.).

(zusammengestellt von Marie-Theres Wacker und Ludger Hiepel)