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Der erste jüdische Friedhof in Münster (13. und 14. Jahr­hundert)

Erstmals 1301 ist ein jüdischer Friedhof für Münster erwähnt. Er ist damit der älteste in Westfalen. 

Nach allem, was wir wissen, wurden nach dem Pestpogrom von 1350 die Jüdinnen und Juden aus Münster vertrieben oder getötet, die Synagoge wurde geschlossen und der Friedhof vor den Toren der Stadt zerstört. Er wurde als Steinbruch genutzt: Die Steine wurden abgeräumt und in anderen Bauwerken, der Stadtmauer, den Toranlagen sowie mindestens zwei Kirchen als Spolien (Beute- oder Raubstücke) verbaut. Das Gelände des Friedhofs wurde ab der Mitte des 14. Jahrhunderts durch den neuen Außenwall der Verteidigungsanlage überbaut. Der Abschnitt des Walls mit dem Namen „Judenkerkhoff“ blieb noch 3 Jahrhunderte erhalten. Mit dem Ausbau der Zitadelle verschwand er 1661 gänzlich. Heute liegt der Ort auf dem Gelände des Gymnasiums Paulinum.

Heute sind nur noch zwei Grabsteinfragmente dieses mittelalterlichen Friedhofs erhalten und einige Quellen, die zumindest über die damalige Existenz weiterer Steine und ihrer Inschriften berichten.

Das älteste erhaltene jüdische Grabstein­fragment in Münster

Bei archäologischen Untersuchungen von Fundamenten traten 2016 im Bereich der Jüdefelderstraße einige hundert Spolien zutage, die hier nach 1823 verbaut wurden. Sie stammen vom Abbruch der alten St. Aegidii-Kirche, die 1821 eingestürzt war. Beim Bau dieser Kirche wurde wohl dieses Bruchstück eines jüdischen Grabsteins eingebaut, das aller Wahrscheinlichkeit nach vom mittelalterlichen jüdischen Friedhof in Münster stammt. Es datiert auf das Jahr 74 des sechsten Jahrtausends (nach jüdischer Zählung ab Erschaffung der Welt), das vom 22. September 1313 bis zum 12. September 1314 dauerte. Es ist damit das älteste erhaltene Fragment eines jüdischen Grabsteins in Münster und Westfalen.


Die Inschrift lautet:

[…]
ע׳׳ד ל[פרט] […] … 74 der Z[ählung]
לאלף] הששי]… des sechsten [Jahrtausends]
אמן] סל[ה]][Amen] Sela

 

Nicht mehr festzustellen ist, ob es sich um das Gedenken einer Frau oder eines Mannes handelt. Über den erhaltenen Zeilen dürften zwei bis drei Zeilen fehlen.

Das zweitälteste erhaltene jüdische Grabstein­fragment

Bis zum Fund des vorgestellten Fragments von 1313/14 im Jahr 2016 galt ein anderes Fragment als das älteste in Westfalen. Es wurde 1950 in der Befestigung der Aa am Zwinger gefunden. Der Grabstein einer Frau datiert auf Mittwoch, 26. Juli 1324:

ר׳ יצחק ונפטרה בשם[ … hier ruht ….] des H(errn) Isaak, und sie verstarb in gutem 
טוב ביו׳ ם ד׳ כ׳ה׳ בתמוזNamen am 4. Tag, dem 25. Tammuz
פ׳ד׳ לפרט לאלף84 nach der Zählung,
הששי מנו בגן עדןdem sechsten Jahrtausend. Ihre Ru(he) sei im Garten Eden
סלהSela

Die weibliche Verbform verrät, dass es sich um eine verstorbene Frau handelt. Ob die Verstorbene die Frau oder die Tochter des Herrn Isaak war, lässt sich heute nicht mehr klären.

Das Original wird heute in der Synagoge in der Klosterstraße aufbewahrt. Auf Grund seiner Bedeutung – es galt bis 2016 als das älteste erhaltene Fragment eines jüdischen Grabsteins in ganz Westfalen – sind auch zwei Repliken angefertigt worden: Eine ist in der Dauerausstellung des Stadtmuseums zu sehen und eine weitere ist auf dem jüdischen Friedhof an der Einsteinstraße aufgestellt worden.

Das Grabsteinfragment wurde 1950 bei Regulierungsarbeiten östlich der Brücke der Neubrückenstraße beim Zwinger in erheblicher Tiefe entdeckt. Für diesen Bereich war schon in älteren Quellen von Spolien berichtet worden.

 

Spolien im Bereich des Neubrücken­tors und des Zwingers

Der Landrabbiner Abraham Sutro (1784–1869), der auf dem jüdischen Friedhof an der Einsteinstraße bestattet ist (R119), dokumentierte in einem Schreiben vom 31. August 1818 an den Münsterischen Stadtdirektor von Boeselager vier Steine, die unter abgebrochenem Baumaterial im Bereich des Neubrückentores gefunden wurden. Schon Hermann von Kerssenbroick (1519–1585), der Rektor der Domschule – das heutige Gymnasium Paulinum –, hatte in seiner um 1570 verfassten Geschichte der Wiedertäufer über sichtbare Steine mit jüdischen Inschriften am Neubrückentor berichtet. Diese Steine waren an beiden Seiten der Aa eingemauert, u. a. in dem Bereich, an dem sich die öffentlichen Toiletten befanden.

 

 

Freitag, 13. Mai 1335:

פה נקבר ר׳ אשר הישיש ב׳׳ר אורי הלויHier ist beerdigt Herr Ascher, der Greis, Sohn des Herrn Uri HaLevi
הנפטר בליל שבת י׳׳א באייר צ׳׳ה פרט לאלף הששיder gestorben ist in der Nacht des Schabbat, 11. Ijar 95b der Zählung im 6. Jahrtausend.
תהא מנוחתו אצל הצדיקים בגן עדן אמןEs sei seine Ruhe bei den Frommen im Paradies. Amen

 

Donnerstag, 16. Januar 1338:

פה נקבר הישיש רבי אברהם ב׳ ר׳ יעקב הכהןHier ist beerdigt der Greis Herr Abraham, Sohn des Herrn Jakob HaCohen,
אשר נפטר ביום ה׳ י׳׳ז בשבט צ׳׳ח לפ׳קwelcher gestorben ist am 5. Tag, 17. Schwat 98 nach der Zählung.
ובתחיית הצדיקים יקום ויחיה במהרה אמ ןUnd bei der Auferweckung der Frommen wird er auferstehen und wieder leben bald, Amen.

 

Donnerstag (vor 1350):

פה נקברה הישרה מ׳ בת ר׳ משלם נפטרHier ist beerdigt die aufrichtige [Frau], Tochter des Herrn Meschullan. Sie starb
בלילה שבת קו׳ ותהא נוחתה אצל צדקניות בג׳׳ע א׳׳סin der Nacht des heiligen Schabbat und möge Ruhe (finden) bei den gerechten Frauen im Garten Eden. Amen Sela.


Zu einem vierten Fragment schreibt Sutro: „auf dem Bruchstück eines 4. Leichensteins ist die Jahreszahl 73 lesbar.“ Das Jahr 73 des sechsten Jahrtausends begann am 2. September 1312 und endete am 21. September 1313. Ein weiterer Stein wurde in diesem Bereich 1930 entdeckt. Auch dieser, ebenso wie die vier von Landrabbiner Sutro dokumentierten Steine, sind heute verschollen oder zerstört.

 

 

Spolien im Jüdefelder­tor und im Überwasser­viertel

Der Architekt und Militäringenieur Lambert Friedrich von Corfey (1668–1733) schildert in seiner zwischen 1680 und 1720 verfassten Chronik, dass nach der Pest von 1350 das Jüdefeldertor und die Mauer repariert wurden und hier und dort eingemauerte jüdische Inschriften sichtbar seien.

In einem Führer durch Münster aus dem Jahr 1855 berichtet F. J. Langer von mit hebräischen Inschriften versehenen Grabsteinen, die sich im Überwasserviertel befinden würden.

Spolien im Turm von St. Lamberti

Acht Grabsteine wurden 1887 beim Abbruch des Turmes von St. Lamberti gefunden. Sie waren nach der Zerstörung des jüdischen Friedhofs im unteren Teil des Turmes eingemauert worden. Von den Grabsteinen war aber nur ein Stein lesbar:

Montag 21. August 1302

 [Dieser Stein ist gesetzt]
לראש ר׳י יוסףzum Haupt des Herrn Joseph
ב׳׳ר ירחמיאלSohn des Herrn Jerachmiel,
הנפתר [בשנת] ס׳׳ב לפרתder gestorben ist im Jahr 62 nach der Zählung.
יח באב יו ם ג׳18. Ab, 3. Tag.

Das jüdische Datum entspricht dem 21. August 1302, ein Montag. In der Abschrift des Steins, der heute verschollen oder im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, ist in der letzten Zeile aber der 3. Tag (=Dienstag) überliefert.

 

Von den seit dem 16. Jahrhundert erwähnten und seit dem 19. Jahrhundert aufgefundenen mindestens 17 Grabsteinen, die aus den Jahren zwischen 1302 und vor 1350 stammen, sind heute lediglich die zwei hier vorgestellten Fragmente erhalten geblieben.

Mit einem Gedenkstein, der am 29. April 2015 bei einem feierlichen Festakt enthüllt wurde, erinnert das Gymnasium Paulinum an den mittelalterlichen jüdischen Friedhof. Weitere Informationen zu diesem erinnerungskulturellen Schülerprojekt finden Sie hier.

 

Quelle:

Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, B219, Nr. 30 und Nr. 31

Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur, Fach 36, Nr. 3, fol. 45.


Literatur:

Diethard Aschoff, Die Juden in der ständischen Gesellschaft, in: Jakobi, Franz-Josef (Hrsg.), Geschichte der Stadt Münster Bd. I, Münster 31994, S. 575–593, hier S. 579–585.

Paul Bahlmann, Zur Geschichte der Juden im Münsterlande, in: Zeitschrift für Kulturgeschichte 2 (1895), S. 380–409.

Bernhard Brilling / Helmut Richtering / Diethard Aschoff, Westfalia Iudaica. Quellen und Regesten zur Geschichte der Juden in Westfalen und Lippe, Bd. 1: 1005–1350, Münster 21992, hier S. 69/Nr. 47 (Grabstein von 1302); S. 77/Nr. 59 (Fragment von 1312/3); S. 89/Nr. 75a (erhaltener Grabstein von 1324); S. 107f/Nr. 100 (Grabstein von 1335); S. 116/Nr. 113 (Stein von 1338); S. 273f/Nr. 18  (Stein ohne Datum) [In der obigen Zusammenstellung wird nicht den errechneten gregorianischen Datumsangaben dieser Quellenedition gefolgt, sondern den zum Teil abweichenden Umrechnungen von http://www.nabkal.de/kalrechyud.html, die aber mit den auf den Grabsteinen angegebenen Wochentagen besser zusammenpassen].

Brilling, Bernhard,  Der älteste mittelalterliche jüdische Grabstein Westfalens. Zur Geschichte des mittelalterlichen Judenfriedhofs von Münster, in: Westfalen 44 (1966), S. 212–217.

Brilling, Bernhard,  Mittelalterliche Judenfriedhöfe in Westfalen, in: Auf Roter Erde, Neue Folge 60, Februar (1964), S. 1.

Max Geisberg, Die Stadt Münster. Die Ansichten und Pläne, Grundlage und Entwicklung, die Befestigungen, die Residenzen der Bischöfe. Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen 41,1 (Münster 1932). 

Albert Huyskens, Geschichte der Juden in Münster, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde (Westfalen) 57, 1 (1899), S. 134–136,

Karl-Heinz Kirchhoff, Zur Lagebestimmung des mittelalterlichen Judenfriedhofs in Münster, in: Helmut Lahrkamp (Hrsg.), Beiträge zur Stadtgeschichte (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, N.F. 11), Münster 1984, S. 235–244.

Abraham Lewinsky, Zur Geschichte der Juden in Münster (Westfalen), in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 50,1/2 (1906), S. 89–93

Gisela Möllenhoff / Rita Schlautmann-Overmeyer, Art. „Münster“, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, Bd. 2, Münster 2008, S. 487–513; hier S. 508f.

N.N., in: Westfälischer Merkur, Münster, 24. Dezember 1890. [Bericht über den Stein von 1302].

Bernd Thier / Michael Brocke / Nathanja Hüttenmeister: Die Spuren der Steine – Neufund eines mittelalterlichen jüdischen Grabsteins in Münster, in: Archäologie in Westfalen-Lippe 2016, S. 134–138.

Bernd Thier: Auf den Spuren alter Steine quer durch die Stadt – Der Verbleib der Grabsteine vom mittelalterlichen jüdischen Friedhof in Münster nach 1350, in: Westfalen 96 (2018) S. 61–74.

(zusammengestellt von Ludger Hiepel)